Eine Börsenregel auf dem Prüfstand: „Sell in May and go away“. Traditionell gilt der September als der schwächste Börsenmonat des Jahres. Tatsächlich war es früher oft so, dass die Phase zwischen Mai und September die deutlich schwächere für den Aktienmarkt war, während die Monate Oktober bis April gut verliefen. Heute ist dies weitgehend überholt. Sollte man dieser Statistik bzw. veralteten Börsenregel also noch etwas beimessen?
Vor Jahrzehnten war diese Regel nicht nur schon ebenso gängig wie heute, sie war dazumal auch nachvollziehbar. Anleger hatten früher keinen mit den heutigen Möglichkeiten vergleichbaren Zugriff auf den Aktienmarkt. Und zugleich spielten Dividenden eine deutlich größere Rolle als heute. Daraus resultierte der folgende Effekt, dass viele Anleger ihre Dividendenzahlungen, die meist im April oder Mai vollzogen wurden, mitnahmen und vorübergehend ausstiegen. In der Zeit des Sommerurlaubs waren die Möglichkeiten des Zugriffs auf das Depot zu stark eingeschränkt, falls etwas schief laufen würde. Die heutigen Möglichkeiten von Online-Banking und Online-Trading waren bis zur Jahrtausendwende und auch danach noch vollkommen unvorstellbar. Der Aktienhandel wurde weitgehend über ein Telefonat mit der Bank geführt. Und dann musste man erst einmal abwarten, wann und zu welchem Preis man überhaupt verkaufen konnte. Auch die Informationsbeschaffung war weitaus schwieriger als heute.
Als weiteres mutmaßliches Argument für einen schwachen Börsen-September gilt, dass bei einigen Publikumsfonds das Geschäftsjahr in diesem Monat endet. Sie trennen sich also kurz vor Geschäftsjahresende häufig noch von unrentablen Investments oder nehmen bei gut gelaufenen Titeln Gewinne mit. Wirklich fundiert ist diese Argumentation aber nicht, schließlich endet für die Mehrheit der Publikumsfonds das Geschäftsjahr mit Ende Dezember. Große Auswirkungen durch Window-Dressing-Effekte wären also eher im Dezember zu erwarten. Dass Aktien im September oft schlechter abschneiden als in anderen Börsenmonaten, könnte auch an einer “selbsterfüllenden Prophezeiung” liegen: Weil Anleger mit Blick auf die Historie eben jene Entwicklung erwarten und sich im Vorfeld bereits auf einen schwachen September einstellen und entsprechend agieren, um so mögliche Verluste zu begrenzen.
In stürmischen Zeiten wie diesen hat der Börsenmarkt ohnehin mit schwerwiegenderen Themen als statistischen zu kämpfen. Weltpolitische Konflikte haben uns, wie man anhand der letzten Monate schmerzlich zur Kenntnis nehmen musste, in einen Bärenmarkt geführt. Der Ukraine-Krieg, die Energiepreis-Krise und die ausufernde Inflation halten die Börse im Würgegriff. Veraltete Börsenregeln verpuffen folglich als nebensächliche Angelegenheiten. Tipp am Rande: Ein gut diversifiziertes Portfolio, breit über unterschiedliche Einzelwerte und Assetklassen gestreut, ist in Krisenzeiten unabdingbar!
Kolumne im Börsen Kurier am 15. September 2022 veröffentlicht von:
DOMINIK HUBER
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