Windfarmen, so weit das Auge reicht; Solarstromanlagen auf jedem Dach. Und dazwischen… ein Kernkraftwerk? Ist das die Zukunft der europäischen Stromerzeugung? Ja, wenn es nach der Europäischen Kommission und ihrer Interpretation vom europäischen Green Deal geht.
Ziel des europäischen Green Deal ist, bis 2050 in der EU die Netto-Emissionen von Treibhausgasen auf null zu reduzieren. Dazu sollen auch nachhaltige private Investments von Unternehmen und Vermögensverwaltern jeder Art beitragen.
Doch wann ist eine Investition „nachhaltig“? Die Antwort der Europäischen Kommission rief in den vergangenen Wochen insbesondere in Österreich, Deutschland und Luxemburg heftige Reaktionen hervor. Denn nach dem nunmehr endgültigen Plan der Kommission sollen auch bestimmte Gas- und Kernenergietätigkeiten als nachhaltig gelten dürfen.
Auf Basis der Taxonomie-Verordnung 2020/852 könnten etwa Fonds mit Investments in Kernkraftwerke als „nachhaltig“ an Kunden verkauft werden! Kernkraft darf ins Portfolio. Die Kommission begründet das damit, dass Gas- oder Kernenergie für den Übergang zur Klimaneutralität notwendige Brücken- oder Langzeittechnologien sind. Kernenergie kann Grundlast relativ verlässlich abdecken, und Gas ist sehr flexibel und nicht auf Wind oder Sonnenschein angewiesen. Doch Gas erzeugt bei der Verbrennung, wie alle fossilen Brennstoffe, Treibhausgase (wenn auch deutlich weniger als etwa Kohle). Gleichzeitig schwebt über der Kernenergie stets das Damoklesschwert der Endlagerung radioaktiver Abfälle und die Angst der Bevölkerung vor Unfällen.
Juristisch zu begrüßen ist jedenfalls, dass mit der Taxonomie-Verordnung einheitliche Standards für die Bezeichnung von Finanzprodukten als „nachhaltig“ geschaffen wurden. Solche Produkte erfreuen sich steigender Beliebtheit. Das damit wachsende Angebot werden Anbieter in Zukunft auf Basis klarer Grundlagen gestalten können.
Angesichts der breiten Berichterstattung und der geradezu brauchtumsmäßigen Ablehnung von Kernkraft in Österreich und manchen anderen Ländern müssen Finanzdienstleister kritische Fragen ihrer Kunden erwarten, wenn sie ihnen „nachhaltige“ Produkte verkaufen möchten. Ebenso werden börsennotierte Aktiengesellschaften ihren Anteilseignern voraussichtlich detailliert erklären müssen, ob ihre als „nachhaltig“ verbücherten Investitionen in Gas- und Kernenergie vielleicht nicht doch nur „Greenwashing“ sind. Für Österreich ist absehbar: Neben den „genfreien“ Lebensmitteln im Supermarkt werden bald „atomfreie“ Finanzprodukte und Investments angepriesen – denn nicht jeder interpretiert Nachhaltigkeit wie die EU-Kommission und lässt sein Geld für Atomstrom arbeiten.
Kolumne im Börsen Kurier am 10. Februar 2022 veröffentlicht von:
FLORIAN PRISCHL
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